22
Dylan stand vor der Glastür des Zimmers ihrer Mutter im zehnten Stock des Krankenhauses und versuchte, den Mut aufzubringen Inneinzugehen. Die Krebsstation war so ruhig in der Nacht; es waren nur das gedämpfte Flüstern der Schwestern in ihrem Schwesternzimmer und das gelegentliche Schlurfgeräusch zu hören, wenn ein Patient in Hausschuhen einen kurzen Rundgang im Flügel machte, die Finger um den mobilen Infusionsständer geklammert, der neben ihm herfuhr. Vor nicht so langer Zeit war auch ihre Mom einer dieser beharrlichen, aber erschöpft aussehenden Patienten gewesen.
Dylan dachte voller Zorn daran, dass ihrer Mutter nun noch mehr von diesem Schmerz und Kampf bevorstand. Das Ergebnis der Biopsie würde erst in ein paar Tagen kommen, so sagte zumindest die Schwester am Stationstresen. Sie hofften, dass, falls das Ergebnis positiv war, sie den Rückfall zumindest früh genug entdeckt hatten, um eine erneute, aggressivere Chemotherapie durchführen zu können. Dylan betete um ein Wunder, trotz der bleiernen Schwere in ihrer Brust, während sie sich innerlich gegen schlechte Neuigkeiten wappnete.
Sie drückte den Desinfektionsmittelspender, der neben der Tür an der Wand angebracht war, drückte sich einen Klecks Isopropylgel auf die Handfläche und verrieb ihn. Als sie ein paar Latexhandschuhe aus der Schachtel auf dem Tresen zog und hineinschlüpfte, verschwand alles, was sie in den letzten Tagen durchgemacht hatte, vollkommen.
Ihre eigenen Sorgen verdampften einfach, als sie die Tür aufdrückte, denn nun war nichts anderes mehr wichtig als die Frau, die auf dem Bett zusammengerollt lag und an der so viele Monitorkabel und Infusionsschläuche hingen.
Gott, ihre Mutter wirkte so winzig und gebrechlich, wie sie so dalag.
Sie war immer zierlich gewesen, gute zehn Zentimeter kleiner als Dylan, ihr Haar von einem tieferen Rotton, selbst mit der Handvoll grauer Haare, die seit ihrem ersten Kampf gegen den Krebs gekommen waren. Nun war Sharons Haar kurz geschnitten, ein stacheliger, gewagter Schnitt, der sie fast zehn Jahre jünger wirken ließ als ihre vierundsechzig Jahre. Dylan verspürte einen plötzlichen Anfall von unvernünftiger, aber schneidender Wut angesichts der Tatsache, dass eine erneute Runde Chemotherapie ihr diesen prächtigen, dichten kupferroten Haarschopf nehmen würde. Leise ging sie auf das Bett zu, versuchte, keinen Lärm zu machen, aber Sharon schlief nicht. Sie drehte sich um, als Dylan näher kam, ihre grünen Augen waren hell und warm. „Oh ... Dylan ... hallo, Süße.“ Ihre Stimme war schwach, das einzige wirkliche physische Anzeichen dafür, dass sie krank war. Sie streckte die Hand aus, nahm Dylans Latexfinger und drückte sie fest.
„Wie war die Reise, Schatz? Wann bist du zurückgekommen?“
Scheiße. Sie hatte ja offiziell ihren Aufenthalt in Europa verlängert. Die paar Tage, die sie mit Rio verbracht hatte, kamen ihr wie ein Jahr vor.
„Äh, ich bin gerade erst nach Hause gekommen“, antwortete Dylan, was nur zum Teil gelogen war.
Sie setzte sich auf den Rand der dünnen Krankenhausmatratze, ihre Hand immer noch gefangen im klammernden Griff ihrer Mutter.
„Ich habe mir etwas Sorgen gemacht, als du deine Pläne so abrupt geändert hast. Deine E-Mail, dass du noch etwas länger bleibst, war so kurz und merkwürdig. Warum hast du mich nicht angerufen?“
„Tut mir leid“, sagte Dylan. Dass sie ihre Mom anlügen musste, tat ihr noch mehr weh, als zu wissen, dass sie ihr Sorgen bereitet hatte.
„Ich hätte angerufen, wenn ich gekonnt hätte. Oh, Mom ... es tut mir so leid, dass es dir nicht gut geht.“
„Es geht schon. Besser, jetzt, wo du da bist.“ Sharons Blick war klar und von einer ruhigen Entschlossenheit. „Aber ich sterbe, Liebes. Das verstehst du doch, nicht wahr?“
„Sag das nicht.“ Dylan drückte die Hand ihrer Mutter, dann hob sie die kühlen Finger an die Lippen und küsste sie. „Du schaffst das, genau wie du's schon einmal geschafft hast. Du kommst wieder auf die Beine.“
Die Stille - die sanfte Duldung - im Zimmer war fast wie mit Händen zu greifen. Ihre Mutter würde das Thema nicht weiterverfolgen, aber es war hier, lauerte wie ein Geist in der Ecke.
„Nun, reden wir lieber über dich. Ich will alles wissen, was du gemacht hast, wo du überall gewesen bist ... was du gesehen hast, solange du fort warst.“
Dylan sah hinab, konnte ihrer Mutter nicht in die Augen sehen, wenn sie ihr schon nicht die Wahrheit sagen konnte. Und die konnte sie ihr nicht sagen. Das meiste davon würde sowieso unglaubwürdig klingen, besonders der Teil, wo Dylan zugeben müsste, dass sie fürchtete, Gefühle für einen gefährlichen, geheimnisvollen Mann entwickelt zu haben. Einen Vampir, verdammt noch mal. Es klang verrückt, diese Worte auch nur zu denken.
„Erzähle mir mehr über die Story von dem Dämonennest, an der du arbeitest, Liebes. Diese Fotos, die du mir geschickt hast, waren ja allerhand. Wann wird sie veröffentlicht?“
„Es gibt keine Story, Mom.“ Dylan schüttelte den Kopf. Es tat ihr leid, das ihrer Mutter gegenüber erwähnt zu haben - und anderen auch.
„Wie sich herausgestellt hat, ist diese Höhle einfach nur eine Höhle“, sagte sie und hoffte, überzeugend zu klingen. „An der war gar nichts Besonderes.“
Sharon wirkte skeptisch. „Wirklich? Aber dieser Sarkophag, den du da gefunden hast - und die unglaubliche Wandbemalung. Was hatte das alles dort zu suchen? Es muss doch etwas zu bedeuten haben.“
„Nur ein Sarkophag. Wahrscheinlich irgend so eine prähistorische Grabkammer.“
„Und das Foto, das du von diesem Mann gemacht hast ...“
„Ein Landstreicher, das ist alles“, log Dylan und hasste sich für jede Silbe, die über ihre Lippen kam. „Auf den Fotos hat alles viel wichtiger ausgesehen, als es in Wirklichkeit war. Und es ergibt keine Story, nicht mal für so einen Schundfetzen wie die Zeitung von Coleman Hogg. Er hat mir übrigens gekündigt.“
„Was? Das ist doch nicht dein Ernst!“
Dylan zuckte die Schultern. „Doch, hat er. Und es ist schon okay. Ich werde schon was anderes finden.“
„Nun, Pech für ihn. Du warst sowieso zu gut für ihn. Wenn dich das tröstet, ich fand die Story wirklich gelungen. Das dachte auch Mr. Fasso. Er hat sogar erwähnt, dass er Kontakte zu einigen großen Nachrichtenagenturen in der Stadt hat. Er würde wahrscheinlich etwas für dich finden, wenn ich ihn darum bitte.“
Oh, scheiße. Sich über ein Vorstellungsgespräch Sorgen zu machen war momentan das Letzte, was sie brauchen konnte. Denn das, was sie soeben gehört hatte, schnürte ihr vor Angst die Kehle zusammen.
„Mom - du hast ihm doch nicht von dieser Story erzählt?“
„Und ob ich das getan habe. Ich habe auch mit deinen Fotos angegeben. Tut mir leid, aber ich muss einfach immer mit dir angeben.
Du bist doch mein kleiner Star.“
„Wem hast du ... oh Gott, Mom, bitte sag mir nicht, dass du das vielen Leuten erzählt hast ... Hast du?“
Sharon tätschelte ihr die Hand. „Jetzt sei doch nicht so schüchtern.
Du bist sehr talentiert, Dylan, und du solltest an größeren, wichtigeren Themen arbeiten. Mr. Fasso sieht das genauso. Gordon und ich haben uns auf der Benefizkreuzfahrt vor ein paar Tagen darüber unterhalten.“
Dylans Magen krampfte sich beim Gedanken zusammen, dass noch mehr Leute darüber Bescheid wussten, was sie in dieser Höhle gesehen hatte. Aber sie kam nicht umhin, das kleine frohe Glitzern in den Augen ihrer Mutter zu bemerken, wenn sie den Mann erwähnte, der die Stiftung für Straßenkids gegründet hatte. „Also duzt ihr euch schon, du und Mr. Fasso?“
Sharon kicherte, und es klang so jugendlich und verschmitzt, dass Dylan einen Augenblick lang vergaß, dass sie neben ihrer Mutter in einem Krankenzimmer der Krebsstation saß. „Er sieht wahnsinnig gut aus, Dylan. Und er ist so charmant. Ich habe ihn immer für distanziert gehalten, fast schon kühl, aber er ist doch ein faszinierender Mann.“
Dylan lächelte. „Du magst ihn.“
„Oh ja“, gestand ihre Mutter. „Ist mal wieder typisch, da finde ich einen echten Gentleman - wer weiß, vielleicht meinen wahren Prinzen? -, wenn es für mich zu spät ist, mich zu verlieben.“
Dylan schüttelte den Kopf, sie wollte so etwas nicht von ihr hören.
„Es ist nie zu spät, Mom. Du bist immer noch jung. Du hast noch eine Menge Leben vor dir.“
Schatten überzogen die Augen ihrer Mutter, als sie vom Bett zu Dylan aufsah. „Du hast mich immer so stolz gemacht. Das weißt du, nicht wahr, meine Süße?“
Dylan nickte, die Kehle war ihr zugeschnürt. „Ja, ich weiß. Ich konnte mich immer auf dich verlassen, Mom. Du warst der einzige Mensch in meinem Leben, auf den ich mich verlassen konnte. Du bist es immer noch. Zwei Musketiere, nicht?“
Sharon lächelte über ihren alten Spitznamen, aber in ihren Augen glitzerten Tränen. „Ich will, dass du es packst, Dylan. Ich meine, das hier. Dass ich dich bald verlasse ... die Tatsache, dass ich sterben werde.“
„Mom ...“
„Hör mir zu, bitte. Ich mache mir Sorgen um dich, Liebes. Ich will nicht, dass du allein bleibst.“
Dylan wischte sich eine heiße Träne weg, die ihr die Wange hinabrann. „Du solltest jetzt nicht an mich denken. Du solltest dich darauf konzentrieren, dass es dir wieder besser geht. Du musst positiv denken. Die Biopsie muss nicht ...“
„Dylan. Halt die Klappe und hör mir zu.“ Ihre Mutter setzte sich auf, auf ihre hübschen, aber erschöpften Züge trat ein störrischer Gesichtsausdruck, den Dylan nur allzu gut kannte. „Der Krebs ist wieder da, und er ist schlimmer denn je. Ich weiß es. Ich spüre es. Und komme damit zurecht. Ich muss wissen, dass auch du damit zurechtkommst.“
Dylan sah auf ihre verschränkten Finger hinunter, ihre maskiert hinter gelbem Latex, die ihrer Mutter fast schon durchscheinend, die Knochen und Sehnen deutlich zu sehen unter der kühlen, allzu blassen Haut.
„Wie lange hast du dich um mich gekümmert, Liebes? Und ich meine nicht nur, seit ich krank bin. Seit du ein kleines Mädchen warst, hast du dir immer Sorgen um mich gemacht und dein Bestes getan, um dich um mich zu kümmern.“
Dylan schüttelte den Kopf. „Wir kümmern uns umeinander. So ist es doch immer gewesen ...“
Sanfte Finger hoben sich zu ihrem Kinn, hoben ihr Gesicht. „Du bist mein Kind. Ich habe für dich gelebt und auch für deine Brüder, aber du warst immer mein Fels in der Brandung. Du hättest nicht für mich leben dürfen, Dylan, Du solltest jemanden haben, der sich um dich kümmert.“
„Ich komm schon allein zurecht“, murmelte sie, angesichts all der Tränen, die ihr jetzt übers Gesicht rannen, nicht sehr überzeugend.
„Ja, das kannst du. Und das hast du auch. Aber du verdienst mehr vom Leben. Ich will nicht, dass du Angst davor hast, zu leben, zu lieben, Dylan. Versprichst du mir das?“
Bevor Dylan irgendetwas sagen konnte, schwang die Tür auf, und eine der diensthabenden Nachtschwestern kam mit ein paar neuen Infusionsbeuteln herein. „Wie geht's uns denn, Sharon? Wie steht's mit den Schmerzen?“
„Ich könnte schon etwas vertragen“, sagte sie, ihre Augen glitten zu Dylan hinüber, als hätte sie ihr Unwohlsein bis jetzt verborgen.
Natürlich hatte sie das. Alles war viel schlimmer, als Dylan zu akzeptieren bereit war. Sie stand vom Bett auf und ließ die Schwester ihren Job machen. Als sie fort war, setzte sich Dylan wieder neben ihre Mutter. Es war so schwer, jetzt nicht zusammenzubrechen, die Starke zu sein, während sie in diese weichen grünen Augen hinunterblickte und sah, dass der Funken - der Kampfgeist, der dort sein sollte - erloschen war.
„Komm her und nimm mich in den Arm, mein Schatz.“
Dylan beugte sich hinunter und schlang die Arme um die zierlichen Schultern. Es war unübersehbar, wie gebrechlich ihre Mutter schon geworden war. „Ich hab dich lieb, Mom.“ „Und ich dich.“ Sharon seufzte, als sie sich wieder zurück ins Kissen lehnte. „Ich bin müde, Liebes. Ich muss mich jetzt ausruhen.“
„Okay“, antwortete Dylan mit belegter Stimme. „Ich bleib hier bei dir, solange du schläfst.“
„Nein, das wirst du nicht.“ Ihre Mutter schüttelte den Kopf. „Ich lass es nicht zu, dass du hier rumsitzt und dir Sorgen um mich machst.
Heute Nacht werde ich dich noch nicht verlassen, und auch morgen nicht, und auch nächste Woche noch nicht - das verspreche ich dir.
Aber du musst jetzt nach Hause gehen, Dylan. Ich will das so für dich.“
Nach Hause, dachte Dylan, während ihre Mutter unter der Wirkung der Medikamente langsam wegnickte. Das Wort kam ihr seltsam leer vor, als sie sich ihre Wohnung und ihre paar Habseligkeiten vorstellte.
Das war nicht ihr Zuhause. Wenn sie jetzt irgendwohin gehen musste, wo sie sich sicher und geborgen fühlte, war es nicht diese jämmerliche Absteige, in der sie wohnte. War es nie gewesen.
Dylan stand vom Bett auf und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. Als sie sich die nassen Augen abwischte, fiel ihr Blick auf ein schattendunkles Gesicht und breite Schultern, die sich dunkel gegen das Korridorlicht abzeichneten.
Rio.
Er hatte sie gefunden, war ihr gefolgt.
Wo jeder Instinkt ihr befohlen hätte, vor ihm davonzulaufen, ging Dylan stattdessen auf ihn zu. Sie zog die Tür auf und traf ihn vor dem Krankenzimmer ihrer Mutter. Unfähig zu reden, schlang sie die Arme um seine robuste Wärme und weinte leise an seiner Brust.